Literaturkritik

   

Zum 90. Geburtstag von Nora Pfeffer

Nora Pfeffer wird 90 Jahre! Sie ist eine großartige Dichterin und mutige Frau, aber auch schon zu ihren Lebzeiten zu einem wichtigen Teil der Geschichte der russlanddeutschen Literatur geworden.
Nora Pfeffer ist in dem multinationalen Tbilissi (Tiflis) aufgewachsen. Viele Jahre lebte sie in Gefängnishaft unter Leidensgenossen verschiedener Nationalitäten sowie auch später in Almaty als angesehene Dichterin und Mitarbeiterin der Wochenschrift „Neues Leben“ in Moskau. Deshalb sind für sie Internationalismus und Toleranz keine leeren Worte, sondern eine natürliche Lebensart.
Sie ist sehr gastfreundlich, kocht gern und gut auf georgische Art, liebt den georgischen mehrstimmigen Gesang und die Sprache, die sie seit ihrer Kindheit genau so gut wie Deutsch beherrscht. Ich war vor einigen Jahren Zeugin eines Telefongesprächs, als der sechs Jahre jüngere Bruder Gustav ihr Grüßen aus Georgien übermittelte und sie auf Georgisch vorlas. Als er sie übersetzen wollte, unterbrach sie ihn freundlich: „Güstilein, ich versteh doch alles“. Danach lächelte sie: „Er lebt schon so viele Jahre in Deutschland, aber immer, wenn wir über Georgien sprechen, hat er einen Hauch von georgischem Akzent“. Sie selbst hatte es auch...
Diese Frau faszinierte mich seit unserer ersten persönlichen Begegnung im Sommer 1992 auf einem Autorenseminar in Eriskirch am Bodensee, das von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland organisiert wurde. Es ging ihr damals nicht gut. Sie war erst ein Jahr in Deutschland, lebte noch in einer kleinen Notwohnung in Köln und hatte vor kurzem ihren heißgeliebten Sohn, einen in Georgien anerkannten Literaturwissenschaftler verloren. Ich konnte sehr gut mitfühlen mit dieser Tragödie und verstehen, wie sie mit ihren Schicksal haderte, das es ihr auch diesen Schlag – den eigenen Sohn zu überleben – nicht ersparte.
Sie erzählte mir viel von ihm: Wie sie ihn in Gefängnishaft und Verbannung vermisste und deshalb begonnen hatte, Kindergedichte zu schreiben. Er war drei Jahre, alt als sie gewaltsam getrennt wurden, und als sie ihn als 13jährigen Teenager wieder sehen durfte, fiel sie in Ohnmacht, so groß waren die Freunde und der Trennungsschmerz...
Ich hatte viele ihrer Gedichte gelesen und wusste Bescheid über ihr schweres Los.
Traurig und mutig klang für mich ihr Gedicht über ihr Kismet „Ich bin noch nicht so weit...“
Trotz des grauen Alltags in unbekannter Umgebung in einem Wohnheim, den vielen Erinnerungen und den wenigen mitgebrachten Erinnerungsstücken – einigen Vasen, Keramik, vielen Fotos und Büchern – lebte sie in einer Welt der Poesie, schrieb wieder viele neue Kindergedichte und Nachdichtungen, veröffentlichte in Deutschland drei Kinderbücher, dann die Nachdichtungen von Boris Sachoder „Durch die Straßen streunt ein Hund“ und ihre eigene wunderbare Lyrik „Zeit der Liebe“ mit parallelen russischen Übersetzungen, die dreimal nacheinander aufgelegt wurde.
Nora Pfeffer ist von Natur aus sehr musikalisch, viele ihre Gedichte sind vertont worden. Sie hat ein absolutes Gehör und ein sehr gutes Gedächtnis. Bei Diskussionen über Gedichte könnte sie dank dieser ihrer Eigenschaft und der langjährigen Erfahrung als Lektorin sofort auf die schwachen Stellen aber auch auf das Gelungene hinweisen.
Ich habe einen großen Respekt vor dieser Granddame der russlanddeutschen Literatur. Es ist eine Seltenheit und eine besondere Freude in der Nähe so einer Frau zu leben, mit ihr befreundet zu sein und Antworten auf quälende Fragen des Lebens in ihren Gedichten und Gesprächen mit ihr zu finden.

Liebe Nora! Danke, dass es dich gibt!
Herzlichen Glückwunsch zum 90. Geburtstag wünsche ich dir im Namen aller deiner Literaturfreunde. Dein Mut, mit dem Du dein Leben und Alltag meisterst, ist beneidenswert. Weiter so!

Agnes Gossen-Giesbrecht
Bonn-Köln, 2009

Agnes Gossen-Gisebrecht